Die Tageszeitung „junge welt“ veröffentlichte  am 11. Mai 2016 einen Schwerpunkt zu B. Braun  Melsungen:

 

Alles unter der Decke

Der deutsche Pharma- und Medizinkonzern B. Braun Melsungen strebte offenbar in der Ukraine eine Monopolstellung bei Dialysegeräten an

Von Yunus Cetin

 

Vor zwanzig Jahren geriet der Pharmakonzern B. Braun Melsungen dorthin, wohin ein Gesundheitsunternehmen ungern gerät: in die Schlagzeilen. Der Global Player musste sein Pflaster »Lyodura«, das er an Kliniken in über 100 Ländern verkaufte, zurückziehen. Das aus den Hirnhäuten Verstorbener gewonnene Präparat, in der Neurochirurgie benutzt, stammte aus dubiosen Quellen, und der Verdacht bestand, es seien dafür auch Hirnhäute von AIDS-, Tuberkulose- und Hepatitisinfizierten verarbeitet worden. Eine Untersuchung förderte ans Licht, Spendergewebe für »Lyodura« könnte auf dem Schwarzmarkt in Osteuropa, etwa in der Ukraine, erworben worden sein. Weltweit wurden schließlich 120 Todesfälle durch die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit mit dem Präparat in Verbindung gebracht. Der Konzern zahlte dem Vernehmen nach Familien der in Japan davon Betroffenen je 600.000 Dollar Entschädigung.

 

Ein neuerlicher Skandal, in den B. Braun Melsungen verwickelt ist, trug sich jetzt in der Ukraine zu. Bislang gelang es den Beteiligten, die Sache weitgehend unter der Decke zu halten. Dabei geht es offenbar vornehmlich um Korruption.

 

Der Pharmakonzern wird vor Ort von der »Medical Group Ukraine« (MGU) (sieh auch jW vom 3. Mai) vertreten. Sie vermittelte offenbar u. a. Geschäfte zwischen dem Konzern und dem ukrainischen Gesundheitsministerium. Ende 2014 wurde bekannt, dass das ukrainische Subunternehmen des hessischen Konzerns (oder vielleicht dieser selbst?) nach dem Rockefeller-Prinzip vorging. Der Ölproduzent hatte einst Petroleumlampen verschenkt, um durch den Verkauf des Öls, das bei ihm dafür erworben werden musste, Geld zu machen. Das Geschäftsmodell wird heute für Handyverträge, Computerdrucker mit Kartuschen, Kaffeemaschinen mit Kapseln etc. verwendet.

 

So auch die MGU. Sie lieferte Braun-Dialysegeräte kostenlos an viele Krankenhäuser der Ukraine, um diese dann mit dem Bezug von Verbrauchsmaterial für die Blutreinigung finanziell an die Kette zu legen. Als jedoch in der Stadt Shitomir, westlich von Kiew, nahezu neuwertige Dialysegeräte der Konkurrenz gegen die von Braun getauscht wurden und die wesentlich teureren Betriebsmittel der Deutschen plötzlich das MGU-Etikett trugen, fiel das auf – vor allem jener Konkurrenz. Die fürchtete eine Monopolstellung der Deutschen.

 

Klar war, dass der Versuch, zum einzigen Lieferanten von medizinischen Verbrauchsmaterial in der Ukraine aufzusteigen, nicht ohne Zutun der Politik zu verwirklichen war. Was da im einzelnen geschehen war, wurde nicht untersucht. Präsident Petro Poroschenko erklärte aber plötzlich, es gebe im Land kein »nationales Gesundheitssystem«, sondern eine »nationale Katastrophe«. Kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich sei derart vernachlässigt worden und korrupt. Anlass für den Ausbruch war der Tod von zwanzig Patienten in Dnepropetrowsk, die mit Braun-Dialysegeräten und MGU-Verbrauchsmitteln behandelt worden waren. Ob diese Materialien für den Tod ursächlich waren, wurde vermutet, nicht aber bewiesen. Vorsichtshalber setzte man vermeintlich bessere Verbrauchsmittel ein, die noch teurer waren als die bisherigen, was wiederum die Schließung von Dialyseeinrichtungen zur Folge hatte. Von einst 20 in Odessa arbeiten z. B. nur noch drei. Wer dort an eine künstliche Niere will, muss mehr Geld unter dem Tisch hinüberreichen. Patienten, die das nicht können, werden mit Tabletten nach Hause geschickt und damit in den sicheren Tod. So ist es überall im Land – die Ukraine kürzte die Gesundheitsausgaben und erhöhte dafür den Militäretat.

 

In Shitomir wurden jedenfalls die Ermittlungsbehörden aktiv und ersuchten die zuständigen Stellen in Deutschland um Rechtshilfe. Im Zusammenhang mit Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Lieferaufträgen an die MGU wollte man unter anderem wissen, in welcher Beziehung der Pharmakonzern Braun zu diesem Unternehmen stehe, ob und welche Verträge zwischen beiden Firmen in der Zeit vom 1. Januar 2013 bis zum 1. Oktober 2014 abgeschlossen wurden und so weiter.

Selbst der Geheimdienst SBU wurde aktiv. Er informierte den Leiter des ukrainischen Interpol-Büros über die Causa MGU. Man erinnerte sich dort, dass wenige Jahre zuvor in Kiew ein internationaler Organhändlerring aufgeflogen war. Über drei Jahre lang hatten Ärzte aus renommierten Kliniken der Hauptstadt gegen fünfstellige Dollarbeträge Nieren transplantiert. Daher wurde man jetzt beim Stichwort Dialyse hellhörig. Unter Punkt sechs seines Schreibens bat der SBU um Auskunft, ob Braun seinen ukrainischen Partner MGU kontrolliert habe.

 

Was aus den Ermittlungen wurde, ist nicht bekannt. Alles bleibt bislang unter der Decke.

 

 

Was interessiert die Nazivergangenheit eines deutschen Konzerns?

Von Yunus Cetin

 

Am 3. September 1943 kam Lilli Jahn ins »Arbeitserziehungslager Breitenau«. Die 43jährige geschiedene Ärztin war kurz zuvor mit ihren fünf Kindern aus Immenhausen ausgewiesen worden. Sie war die einzige Jüdin in diesem hessischen Ort, den dessen brauner Bürgermeister »judenfrei« machen wollte. Sie ging nach Kassel und heftete in der neuen Wohnung in der Motzstraße 3 ihre Visitenkarte an die Tür: »Dr. med. Lilli Jahn«. Dafür denunzierten sie die Nachbarn, weil sie gleich gegen zwei Naziverfügungen verstoßen hatte. Erstens durften Juden keinen Doktortitel führen, zweitens hatte sie es unterlassen, »Sara« als zweiten Vornamen auf die Karte zu setzen.

 

Die Gestapo brachte sie nach Breitenau, 15 Kilometer südlich von Kassel. Seit 1874 diente das einstige Kloster als »Besserungsanstalt« für »Arbeitsscheue«, die Nazis machten daraus 1933 bis 1940 ein KZ, dann firmierte es als »Arbeitserziehungs-lager«. Bis Kriegsende waren dort etwa 8.300 »Schutzhäftlinge« inhaftiert, mehrheitlich Zwangsarbeiter aus 20 verschiedenen Ländern. Sie mussten bei Bauern und Betrieben in der Umgebung arbeiten, ehe sie deportiert wurden oder vor Entkräftung starben. Lilli Jahn kam am 17. März 1944 nach Auschwitz, wo sie im Juni oder Juli zugrunde ging. (Ihre 250 Briefe, 2002 unter dem Titel »Mein verwundetes Herz« als Buch erschienen, werden mit Anne Franks Tagebuch und Victor Klemperers Aufzeichnungen verglichen.)

 

In den im Internet verfügbaren Darstellungen zu Lilli Jahn, z. B. bei Wikipedia, heißt es, dass sie »als Zwangsarbeiterin in einer Pharmafabrik eingesetzt« war. Die wird jedoch nirgendwo näher bezeichnet. Auf Nachfrage in der Gedenkstätte Breitenau ist zu erfahren, dass Lilli Jahn in einer Dependance der Firma Braun in Spangenberg arbeiten musste.

 

In eben jenem September 1943, als Lilli Jahn nach Breitenau gebracht wurde, kam in Kassel Ludwig Georg Braun zur Welt, Sohn von Otto Braun, Eigentümer dieser Pharmafabrik. Der hatte 1929 das bereits seit neunzig Jahren bestehende Familienunternehmen übernommen. Gemeinsam mit seinem Bruder Bernd trieb er, wie es in einschlägigen Darstellungen heißt, die »Expansion« der Firma voran. Dabei wird die Mitgliedschaft in der NSDAP gewiss nicht hinderlich gewesen sein. 1939 zählte das Pharma- und Medizinbedarfsunternehmen in Melsungen schon 500 Angestellte. Im Jahr 2015, heißt es, beschäftigte B. Braun weltweit fast 56.000 Mitarbeiter in 64 Ländern. Der Umsatz habe 6,13 Milliarden Euro betragen.

Der 1943 geborene Ludwig Georg Braun war bis 2011 Vorstandsvorsitzender dieser Firma und ist Ehrenpräsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Gibt man auf der Homepage des Unternehmens »Zwangsarbeiter« ein gibt es »Null Suchergebnisse«. Das einzige Foto dort aus der Nazizeit ist von 1936 und zeigt Dr. Bernd Braun, den wissenschaftlichen Leiter des Unternehmens. An seinem Revers, wo üblicherweise das Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz getragen wurde, befindet sich ein kreisrunder weißer Fleck.

 

Die B. Braun Melsungen AG gehörte zu den mehr als 6.000 deutschen Unternehmen, die sich – mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Nazireichs – an der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« zur Entschädigung von »Zwangsarbeitern des NS-Regimes« beteiligten. Man schätzt, dass zwischen sieben und elf Millionen Menschen europaweit für deutsche Unternehmen Sklavenarbeit verrichten mussten, in den besetzten Teilen der Sowjetunion waren es 22 bis 27 Millionen.

Die Zahlungen aus den Stiftungseinlagen, zu gleichen Teilen von der Industrie und der Bundesregierung erbracht, wurden von der Politik ausdrücklich als »Geste« deklariert, es handele sich keineswegs im juristischen Sinne um eine Entschädigung.

Die jüdische Zwangsarbeiterin Dr. Lilli Jahn mehrte den Reichtum des Unternehmens B. Braun und zahlte dafür mit ihrem Leben. Zufall ist, dass der Sohn des Unternehmers geboren wurde, als ihre Sklavenarbeit in diesem Unternehmen begann. Zwischen den Lebensläufen beider besteht kein kausaler Zusammenhang. Zudem: »Wir schützen und verbessern die Gesundheit von Menschen weltweit«, lautet der aktuelle Slogan des Unternehmens. Was interessiert da die Vergangenheit?

 

 

Hintergrund: Korruption in der Ukraine

 

In der Ukraine ist die Gesundheitsversorgung kostenlos. Aber nur theoretisch. Ohne Zuwendungen läuft nichts in Praxen und Hospitälern. Kaum ein Arzt, kaum eine Krankenschwester, die ihre schlecht bezahlte Arbeit ohne Bakschisch erledigt. Es ist üblich, dass die Untersuchung erst beginnt, wenn ein Umschlag mit US-Dollar oder Euro den Besitzer gewechselt hat. Die Höhe des Betrages entscheidet über die Qualität der Behandlung. Die Folge: Die Reichen ziehen es vor, sich gleich im Ausland behandeln zu lassen (was wiederum Arbeit für Landsleute schafft, die Fremdsprachen beherrschen und über Kontakte in auswärtigen Gesundheitseinrichtungen verfügen; ich kenne Leute in Kiew, die davon leben). Und die Mittellosen gehen erst gar nicht zum Arzt.

 

Ob Klinikpersonal, Milizionäre, Hochschullehrer, Verwaltungsbeamte oder Zöllner: Sie alle halten die Hand auf, und nicht wenige haben sogar eine Quote zu erfüllen, denn der Vorgesetzte muss partizipieren, er sichert schließlich alles ab. Er hält die Hand schützend über den Untergebenen. Verkehrssünder kaufen sich frei, Bauherren erwerben Genehmigungen, Prüflinge bezahlen für die Gunst der Professoren .

Im Korruptionsranking, das Transparency International (TI) veröffentlicht, belegt die Ukraine bei 175 untersuchten Staaten Platz 144. An der TI-Kritik, die von Präsident Petro Poroschenko berufene Antikorruptionsbehörde sei reiner Betrug, da diese durch die Regierung bestimmt werde, müssen auch nach dem jüngsten Wechsel des Regierungschefs in Kiew keine Abstriche gemacht werden. Der Kampf gegen Korruption sei eine langwierige Angelegenheit und kein Sprint, erklärte TI. Doch dazu fehlen Kiew ganz offensichtlich die Puste, der Willen und wohl auch die Macht.

 

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